Sagen

Sagen ranken sich um die alten und markanten Gemäuer des ehemaligen Rußwurmschen Rittergutes. Eine sei an dieser Stelle wiedergegeben:

Der begrabene Däumling

Vor mehreren Jahren wurde am sogenannten steinernen Hause zu Frauenbreitungen etwas repariert. In der Mittagsfeierstunde sah einer der Maurergesellen müßig aus einer Luke desselben in die daran stoßenden Gärten. Da gewahrte er, wie eine Frau gegangen kam, unter einem alten Birnbaume ein Loch in die Erde grub, darauf eine Schachtel unterm Mantel hervorzog, und in das Loch verscharrte, welches sie sodann sorgfältig wieder mit dem Rasen bedeckte. Gern hätte der Maurergeselle sogleich, nachdem die Frau wieder fortgegangen war, seine rege gewordene Neugierde befriedigt, und auf der Stelle nachgesehen, was eigentlich die Frau dort unter dem alten Birnbaum vergraben habe.

Allein die Feierstunde war vorüber, und der Geselle musste wieder an die Arbeit. Fest nahm er sich aber vor, am Feierabend die Sache zu untersuchen, erzählte auch einem Mitgesellen, was er gesehen und forderte ihn auf, nach beschlossener Arbeit ihn unter den alten Birnbaum zu begleiten und mit nachzusehen. Der Mitgeselle sagte zu, konnte aber nicht Wort halten, weil er gegen Abend von seinem Meister einen Gang aufgetragen bekam, von welchem er erst spät zurückkehrte.

Nach eingetretenem Feierabend machte sich demnach der Geselle allein auf den Weg und begab sich unter den alten Birnbaum, wo er an der wohlgemerkten Stelle einschlug. Bald gelangte er auf die vergrabene Schachtel, zog sie heraus und lüftete den Deckel, um nachzusehen, welche Schätze darin verborgen seien. In der Schachtel aber lag ein lebendiges Geschöpf, etwa eine halbe Elle lang, von menschlicher Gestalt, aber mit kohlenschwarzem Gesicht, Bockshörnern und Pferdefüßen; das stierte ihn mit großen funkensprühenden Feueraugen an, sprang mit einem ungeheuren Satz aus der Schachtel heraus und hüpfte mit mehr als mannshohen Sätzen einigemal um den erschrockenen Gesellen herum, dann aber mit widerlichem Freudengeschrei über Bäume, Hecken und Zäune fort nach dem See zu, auf und davon.

Entsetzt ließ der Geselle die Schachtel fallen und rannte nach Hause. Totenbleich und sterbenskrank kam er daselbst an. Kaum konnte er mit lallender Zunge erzählen, was ihm begegnet war. Ein Nervenfieber packte ihn, und nach wenigen Tagen war er tot. In der Fieberhitze phantasierte er beständig von der Däumlingsgestalt; dann sträubte sich das Haar ihm empor, die Augen traten ihm vor den Kopf, der Angstschweiß vor die Stirne und krampfhaft stöhnte der Armen: „Schafft mit den schwarzen Teufel fort; er will mich umbringen“.

Die Schachtel und das Loch fand man unter dem alten Birnbaume. Den Däumling aber hat niemand wieder gesehen, und eben so wenig hat man erfahren können, wer die Frau gewesen, welche die Schachtel unter dem Birnbaum vergraben.

nach Ludwig Bechsteins „Thüringer Sagenbuch“